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Wie eine Trophäe ragt der Turm des Unesco Welterbes Zollverein in den Himmel über der Ruhrmetropole Essen. Zechenbaron Franz Haniel hat den Turm und die dazugehörige Mega-Anlage ab 1928 bauen lassen. Da war klar, wer bei der Besetzung des Ruhrreviers durch französische und belgische Soldaten ab 11. Januar 1923 gesiegt hatte und was die Ruhrbesetzung noch gebracht hatte: das Trauma Inflation. Und das wirkt jetzt schon bis ins nächste Jahrhundert.
Die Abendausgabe der „Düsseldorfer Nachrichten“ vom 11. Januar 1923 kostete bereits 30 Mark pro Ausgabe. Einen Monat später wird der Preis für ein Pfund Margarine auf 4.000 Reichsmark gestiegen sein. Die Zeiten waren schon schlecht, bevor die Besatzer von ihren Sammelplätzen in Düsseldorf und Duisburg nach Essen aufbrachen. Düsseldorf hatte gerade die Volksspeisung Winter eingerichtet; eine Art Tafel, wie sie heute überall nötig sind. Seit Jahren litten Düsseldorfer zu diesem Zeitpunkt schon unter französischer und belgischer Besatzung. Massenhaft waren Wohnungen, Schulen und andere Gebäude von Soldaten und Offizieren besetzt. Die Besatzer konfiszierten Lebensmittel, behinderten Nachlieferungen vom Land und bedienten sich in örtlichen Weinkellern, wie das Stadtarchiv Düsseldorf umfangreich dokumentiert.
Frankreich brauchte Kohle aus Deutschland
Die zunehmend verschärfte Besetzung am Rhein war Folge des französischen Ärgers über Schwierigkeiten, die Deutschland mit den Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag hatte. Die seit 1918 wieder unter französischer Leitung arbeitenden Hüttenwerke in Lothringen hatten nicht genug Kohle für ihre Hochöfen. Gemäß „Versailles“ sollten die Deutschen Kohle nach Lothringen liefern – und zwar aus den Gruben der Stahl- und Zechenbarone an der Ruhr. Die hatten zuvor in Lothringen das Sagen, seit die Deutschen 1870 gegen Frankreich gesiegt hatten.
Der Ärger ging so weit, dass Raymond Poincaré am 15. Januar 1922 ins Amt des französischen Ministerpräsidenten drängte. Der verdrängte Aristide Briand hatte Entspannung gegenüber den stöhnenden Deutschen signalisiert. 1926 wird Briand mit dem Friedensnobelpreis rehabilitiert. Im Hintergrund hatte sich auch John M. Keynes für Entspannung ausgesprochen.
Tatsächlich stockten die Reparations-Zahlungen und Lieferungen nach Paris immer wieder. Selbst 1 Mio. Tonnen Kohle, welche die Ruhr jeden Monat nach Lothringen schickte, waren nicht genug; wohlgemerkt Kohle, die das Deutsche Reich den privaten Zechen-Baronen und deren Kohle-Syndikat in Essen abkaufen musste. Erst 30 Jahre später schwindet die Macht des „schwarzen Goldes“: Aus dem mächtigen Syndikat wird das Notkartell Ruhrkohle AG. Das war der Beginn des Ölzeitalters.
Nicht erklärter Krieg
Briand-Nachfolger Poincaré wird in Lothringen geboren; zehn Jahre bevor die Deutschen seine Heimat besetzten. Die Schlachtfelder von Verdun liegen einen Krieg weiter und nicht weit von seinem Geburtsort entfernt. Poincaré will nicht nur Schadenersatz sondern auch Sicherheit – vor den Deutschen. Am besten wäre das Ruhrgebiet abgetrennt und das Deutsche Reich wieder in Kleinstaaten zerstückelt, so beschreiben Historiker die Strategie aus Paris. Politisch korrekt ließ Poincaré die alliierte Reparations-Kommission am zweiten Weihnachtstag 1922 feststellen: „Die Deutschen sind mit Kohle-Lieferungen in Verzug.“ Für Franzosen und Belgier ist das Grund genug, um an der Ruhr einzumarschieren, um für mehr Leistung der Zechen zu sorgen.
Strategie der Ruhrbarone
„Kohle-König“ und Strom-Produzent Hugo Stinnes hatte das schon kommen gesehen und gehandelt: Er überzeugte Reichspräsident Friedrich Ebert davon, Wilhelm Cuno zum neuen Reichskanzler zu machen. Cuno war bis dahin Chef der (Kohle)-Reederei Hapag in Hamburg. Stinnes war auch dort maßgeblich beteiligt. Als schließlich der D-Day da war und französische wie belgische Soldaten am 11. Januar 1923 auf dem Burgplatz in Essen standen, da hatten die Ruhrbarone um Stinnes die Dokumente ihres Kohle-Syndikats bereits nächstens nach Hamburg fahren lassen – ins Haus am Ballin-Damm, das Zechen- und Stahl-Manager Emil Kirdorf in enge Nachbarschaft zu Hapag hatte bauen lassen.
Verweigerte Dienste
Kanzler Cuno handelte: Reparationskohle werde augenblicklich nicht weitergeliefert, ließ er aus der Kabinett-Sitzung in Berlin verkünden. Da standen die Besatzer noch keine 24 Stunden in Essen. Die einmarschierten Ingenieure aus Frankreich, Belgien und Italien, die unter dem Schutz der Besatzungstruppen in den Zechen der Ruhr für mehr Leistung sorgen sollten – sie prallten auf Verweigerung. Selbst ansonsten geneigte Damen des horizontalen Gewerbes verweigerten den gewünschten Dienst am Besatzer in der damals einschlägigen Kurze Straße in Essen-Schonnebeck. Als Ausgleich für die nun nicht mehr ans Reich verkaufte Reparations-Kohle durften die Zechen den Preis für die verbliebenen Abnehmer in Deutschland massiv heraufsetzen; sozusagen ein Zechen-Unterstützungsaufschlag. Später – in Ruhrkohle-Zeiten – wird es einen Kohle-Pfennig geben, den das Bundesverfassungsgericht als Grundgesetz-widrig aburteilen wird.
Hunger als Waffe
Der Rest der Ruhrbesetzung ist eine bittere Geschichte von Zerstörungen, Kriegsverbrechen, Hunger und Elend. Nach sechs Monaten Besatzung gibt Kanzler Cuno die Zahl der Besatzer mit 80.000 an. Soldaten und Offiziere mussten untergebracht und versorgt werden. Ein Bier kostete 100.000 Mark. Die Lage wurde noch schlimmer, als die Besatzer im Sommer 1923 Hunger als Waffe einsetzten: Sie riegelten das gesamte Revier von Duisburg bis Dortmund ab. „Der Hunger-Sommer 1923 war schlimmer als die Not in den Kriegsjahren“, weiß Theo Grütter professoraler Direktor des Ruhr Museum in Essen.
20 Euro für 1 Rentenmark
Selbst die weltweit vernetzten Warburg-Bankiers aus der Hamburger Nachbarschaft zur Hapag-Reederei und – bis heute auch – zum Hamburger Rathaus schafften es nicht, genügend Millionen für eine Gold-Anleihe des Deutschen Reichs aufzutreiben; also für eine Vorläuferform von Bundes- und Länderanleihen. 1 Dollar kostete zu diesem Zeitpunkt 1 Mio. Mark. Kanzler Cuno gab auf. Nachfolger Gustav Stresemann vernahm Signale aus Amerika und England: Eine Gesundung des Reichs sei im Interesse der Alliierten, hieß es im Spätsommer 1923. Am 15. November 1923 gipfelt die Hyper-Inflation in der Währungsreform: 1.000 Milliarden Mark schrumpfen zu einer einzigen, aber wertvolleren Rentenmark; gedeckt jeweils mit 0,3583 Gramm deutschem Gold. Heute wären das etwa 20 € oder Dollar.
Verhaftungen, Tote und Konzerne
Zeitzeuge Hans Spethmann schrieb 1931, die Ruhrbesetzung war „weder ein friedliches noch ein für Frankreich erfolgreiches Unternehmen.“ Nach einem Jahr der Besatzung musste Frankreich mit einem Kredit der New Yorker Morgan-Bankiers gestützt werden. Im Gegenzug war Paris faktisch gezwungen, dem Plan zuzustimmen, mit dem US-Banker Charles G. Dawes die Reparationslasten der Deutschen verringerte und die Schulden streckte. Spethmanns Sohn Dieter wird 60 Jahre später die August Thyssen AG in einen multinationalen Stahlkonzern verwandelt haben. Gründersohn Fritz Thyssen hatten die Besatzer gleich am Anfang der Besetzung in Essen verhaftet und schnell wieder freigelassen. „Kollege“ Gustav Krupp von Bohlen und Halbach blieb monatelang inhaftiert, nachdem 13 seiner Tausenden Mitarbeiter am Karsamstag 1923 in französischem Kugelhagel starben. In einer unfreundlichen Übernahme wird die Fried. Krupp AG den ewigen Rivalen Thyssen 1999 in die Fusion zur heutigen Thyssenkrupp AG hineinzwingen. Thyssenkrupp muss nun Kohle und Erz aus sehr fernen Ländern herbeischiffen lassen, um im Duisburger Norden Stahl zu „kochen“. Europas größter Stahlstandort liegt wenige Hundert Meter vom Clan-Standort Marxloh entfernt. In Lothringen kocht derweil der weltgrößte nicht-chinesische, nämlich indisch-luxemburgische Stahlriese Arcelormittal.
Aufschwung, Krise und Reform
Vor hundert Jahren brachten Dawes-Plan und das „Schwarze Gold“ der Ruhr das Deutsche Reich auf die Siegerstraße. Deutschland, Frankreich und Europa brauchten Kohle. Hunderte Zechen waren wieder frei. Der „Pott“ dampfte so, dass Heinrich Böll sich dereinst – nach der nächsten Katastrophe von Krieg, Inflation und Währungsreform – literarisch unsterblich schreiben wird: Diese Welt der Zechen, Schlote und Fabriken „ist so unfassbar, dass die Realität von der Phantasie nie eingeholt werden kann.“
Börsenkrach beendet goldene Zeiten
Haniels Zollverein wuchs stolz in die goldenen 20er Jahre hinein. So groß war die internationale Bewunderung, dass Gründer William Durant im Frühjahr 1929 meinte, Adam Opel als weitere Marke für sein General-Motors-Reich aufkaufen zu müssen. Opel war seinerzeit die Nr.1 auf dem deutschen Automarkt. Sechs Monate nach Durants Einstieg in Rüsselsheim schickte der New Yorker Börsenkrach Wirtschaft und Gesellschaft weltweit in die nächste Katastrophe. Lord Keynes berühmte Theorie: „Arbeitsplätze durch Staatsschulden“ wird bis heute Generationen von Wirtschaftlern und Politiker inspirieren. Die Bundesrepublik zahlte 2010 brav die letzte Rate des Dawes-Plans zurück; 90 Jahre nach Versailles. Der Plan – faktisch eine Art „Verewigung“ von Versailles – war 1953 noch einmal verlängert worden; einschließlich einer speziellen Formel für den Fall der deutschen Wiedervereinigung.
Schuldentilgung durch Inflation
Selbst ohne den Zwang des Dawes-Plans ist Verewigung von Staatsschulden heute ein Thema. Das Bundesland NRW als Heimat von Zollverein und Ruhrpott z.B. hat sich in den jüngsten Jahren Milliarden bei Investmentfonds, Pensionskassen und anderen Anlegern aus aller westlichen und östlichen Welt geliehen. Die entsprechenden vier Landes-Anleihen – ausgestattet mit Minizinsen – muss NRW erst im nächsten Jahrhundert zurückzahlen. Die Ruhrbesetzung wird dann 200 Jahre zurückliegen. Kritiker sprechen bei dieser Verewigung der Schulden von einer Art „Enteignung“ durch Entwertung: Was die Erben der heutigen Gläubiger der angeblich sicheren Landes- und Staatsanleihen im nächsten Jahrhundert mit dem dann zurückgezahlten Geld der Landes- und Staatsanleihen – z.B. auch von Österreich – noch werden kaufen können, das ist selbst ohne Hyper-Inflation klar: Kaum mehr als Nichts wird das sein. Der Staat tilgt seine Schulden gegenüber dem (Wahl)-Bürger durch inflationäre Entwertung des geschuldeten Geldes!
Bergarbeiter-Denkmal in Essen, foto mb
Düsseldorf, 8. Januar 2023, Martin Beier